Praxisinstallation - Markus Heinsdorff

An den Wurzeln der Existenz - Über die Praxis der Bilder Die Praxisinstallation von Markus Heinsdorff Die Kunst wandelt sich ständig. Ihre Werte wechseln. Veränderungen scheinen das Gesetz des Lebens zu sein. Und wünschen sich nicht auch immer mehr Künstler für ihre Kunst einen unprädestinierten Ort, der sich das andere, das eigene bewahrt, der sozusagen mitten im Leben zu finden ist, statt der häufig gleichgemachten, neutralen Ausstellungsräume institutionalisierter Provenienz? Markus Heinsdorff hat solch einen anderen Ort gefunden, der an sich kunstfremd ist und ihm doch alle Freiheiten gestattet, um eine den ganzen Ort umfassende künstlerische Rauminszenierung zu realisieren. Und man merke sich: Kunst hat immer und überall ihren Ort, nur der Verwalter des Ortes hat nicht immer Raum und Verstand für die Notwendigkeit von Kunst.

In der Zahnarztpraxis von Thomas Vogt verbinden sich Obsession und Profession zu einer erfahrungs- und erkenntnisreichen, ja auch heilenden Erfahrung für den Besucher, der zugleich immer auch Patient ist. Er läßt in seinen weitläufigen Räumlichkeiten die Kunst Praxis werden und ermöglicht damit dem Patienten eine Bewußtwerdung, die denkbar weit entfernt von der »Schmerzgrenze« liegt. Mit diesem solitären Konzept, das er dem Münchner Künstler Markus Heinsdorff übertragen hat, gibt er dem Patienten mit der Kunst einen Begleiter an die Hand, der ihm in seinem scheinbar passiven, »leidenden« Vorübergehen zugleich den Spiegel vorhält und ihn durch die Mittel der Kunst zu einem tröstlichen Nachdenken über menschliche (Grenz-) Erfahrungen und Befindlichkeiten anhält.

Markus Heinsdorff stellt mit seiner Praxisinstallation ein Konzept vor, das sensibel auf die räumlichen und funktionalen Gegebenheiten eingeht und zugleich eine eigene, in sich geschlossene Welt imaginiert. Seine Installation bezieht sich nicht einfach nur auf die vorgefundene Situation, auf das sozusagen in der Luft liegende Thema, sondern entwirft ein individuell gestaltetes, verführerisches »Anderes«, das zu definieren jedem einzelnen obliegt. So kann hier der nicht in Sachen Kunst erprobte Besucher die Gelegenheit für eine Begegnung mit Kunst nutzen, während der in der Wahrnehmung von Kunst geübte Betrachter seine Kunsterfahrung und sein -verständnis in diesem konkreten Kontext neu überprüfen kann. Je mehr sich sein »denkender« Blick dabei öffnet, desto bewußter erlebt er, wie sich vor seinen Augen die funktionsgebundenen Räumlichkeiten in eine eigenartige, poetische Ausstellungslandschaft verwandeln, in der der vermeintlich Leidende schließlich nicht nur mit den Augen, sondern auch mit der Seele lustwandeln – und dabei sogar andere Operationen in den Hintergrund treten lassen kann.

Kunst begleitet hier also den Patienten auf den verschiedenen Stationen seines »Leidensweges«. Sie flankiert seinen Gang, während er existentielle Erfahrungen wie Schmerz und Angst, aber auch Erleichterung, Linderung und Heilung durchschreitet. Sie läßt ihn nicht allein, drängt sich ihm aber auch nicht auf. Wo der Mensch dem anderen nicht mehr nahe sein kann, kann es vielleicht die Kunst – wenn sie, wie hier, zu einem integrativen harmonischen Teil der Gesamtheit von spezifischen Erfahrungen erwächst.

Jedem einzelnen Raum der Praxis widmet Markus Heinsdorff ein Thema, das sich mit elementaren Situationen des menschlichen Daseins – wie Reisen, Alltag, Liebe oder Vergangenheit, Aussicht, Bewegung und Sehnsucht – beschäftigt. Im Ganzen, d.h. in der Raumfolge, ergänzen sich die Themen zu einem beeindruckenden Spektrum des Lebens. Bereits im Eingangsbereich empfängt den Patienten, der nun zum Kunstbetrachter avanciert, ja dazu verführt wird, das erste Kunstwerk, das damit signifikant das Konzept der Praxisinstallation markiert und ihn sozusagen einweist. Eine Stele zeigt in einer Aussparung auf Augenhöhe, einer Art Guckloch, einen kleinen Monitor, in dem ein Endlosband mit unentwegt treppauf- und treppabsteigenden Menschen abgespielt wird. Der Aufbau suggeriert den Eindruck, als würden tatsächlich miniaturhafte Menschen unermüdlich die Stele von innen erklimmen und wieder herabsteigen. Das Treppenmotiv hat seit Duchamps Akt, die Treppe hinuntersteigend bereits eine ikonografische Tradition in der modernen Kunst; die Stele hingegen ist ein traditionelles Architekturelement wie Kultmonument, das in diesem Zusammenhang sowohl an antike Säulen wie auch an indianische Totems erinnert und damit symbolisch auf den alltäglichen Rhythmus des menschlichen Lebens verweist. Hier spiegelt sich das Auf und Ab unseres täglichen Seins, an dessen Wendepunkten – sowohl den oberen wie auch den unteren – oftmals die physischen Konstituenten der menschlichen Existenz, wie Geburt, Gesundheit, Krankheit und Tod, stehen; hier findet sich der Betrachter in seinem alltäglichen Lebenslauf wieder, während gleichzeitig eine konkrete Station, der Arztbesuch, zum überraschenden Kunsterlebnis gesteigert wird.

Im Verbindungsgang der verschiedenen Praxisräume begleiten 16 Leuchtkästen den Passierenden. Sie zeigen in Stein gehauene Bildnisse menschlicher Gesichter aus verschiedenen Jahrhunderten, deren unterschiedliche, epochal oder stilistisch bedingten Ausdrucksweisen das ganze spannungsvolle Spektrum von Wirklichkeit und Kunst, von Gestern, Heute und Morgen, von Leben und Tod vorführen. Sie reflektieren ihre eigene Zeit und sind doch zugleich über die Domäne Zeit erhaben.

Im Wartezimmer erwarten den Patienten gleich mehrere Objekte. In sechs horizontal ausgerichteten Stahlkästen ist jeweils ein monochrom gehaltener, leuchtender Farbschlitz eingezogen. Die Farbe suggeriert eine Art Horizont und läßt damit eine imaginäre Landschaft vor dem geistigen Auge erscheinen, die je nach Farbe eine bestimmte Stimmung widerspiegelt und so zu einer Art meditativem Seelenraum des Wartenden und seiner Empfindungen wird – Farbe also, zumal die des Spektrums, als Mittler menschlicher Befindlichkeiten und Emotionen. Mit anderen Worten: Die abstrakten Farbformen geraten zu einem Stimmungsbarometer, auf dem sich der Betrachter wiedererkennt. Das Wartezimmer erwächst vom Übergangsort zum Zufluchtsort.

Auf der gegenüberliegenden Wand befindet sich ein weiterer Metallkasten, in dem mehrere kurvig gestaltete Stahlleisten vertikal nebeneinander installiert sind. Das Betreten des Wartezimmers löst ihre Bewegung aus. Sie beginnen sich zu drehen, so daß sich im Auge des Betrachters der Eindruck einer fließenden Wellenbewegung ergibt, deren scheinbare Endlosigkeit ihn und sein Bewußtsein fortträgt: Der sich verlierende Blick fließt mit den Wellenbewegungen davon.

Die verschiedenen Objekte in den Behandlungszimmern entführen schließlich den Menschen dahin, wo er her kommt (auch wenn er es oft genug vergißt oder gar zu vergessen versucht): in die Natur. Sie definiert ein meditatives Reich, in dem der Mensch sowohl seiner eigenen Kräfte, wie auch seiner eigenen Schwächen bewußt wird. Imposante Naturlandschaften umgeben den Patienten in allen Phasen der nun beginnenden Behandlung, indem eine kunstvoll austarierte Spiegelkonstruktionen eine Betrachtung aus allen Positionen – sitzend, liegend wie stehend – möglich macht.

Im ersten Raum erlebt der Betrachter Naturschauspiele, denen er mit seinen Empfindungen und Gefühlen, mit seinem »Selbstbewußtsein« gegenüber gestellt und dadurch in Relation gesetzt wird. Dazu werden ihm beispielsweise große Schluchten der Welt in fotografischen Abbildungen vorgeführt. Im zweiten Behandlungszimmer werden Aufnahmen von Wasser – Meer, Flüsse und Seen – inszeniert. Im dritten kommt ein weiteres beeindruckendes Naturelement hinzu: die Gebirgslandschaft. Alle diese Naturszenen konnotieren menschliche Affekte: von Erhabenheit und Rührung, von Pathos bis Sentimentalität. Sie verbinden sich mit Reiseerinnerungen, entführen den Betrachter und führen ihn schließlich wieder in die Realität zurück. Im letzten Behandlungszimmer begegnet dem Besucher eines der bekanntesten Meisterwerke der erotischen Kunst, Rodins Plastik Der Kuß - hier allerdings auf eine Leuchttafel gebannt und in zahlreiche kleine Felder aufgeteilt. Diese werden per Zufallsgenerator unterschiedlich beleuchtet und so in immer wieder neue Bildkonstellationen überführt. Veränderte Farbwerte zerlegen das Bild zusätzlich, es wird dekonstruiert und in der Gesamterscheinung immer wieder neu konstruiert. Anmut und Ästhetik dieses bekannten Kunstwerks erscheinen auf diese Weise in einer sich ständig verändernden Anschauung, sie werden gleichzeitig analysiert und synthetisiert. Auch dieses Leuchtbild ist durch eine ausgefeilte Spiegelkonstruktion von jeder Position aus zu sehen.

Inszenieren alle diese Stationen die Macht der Bilder, so gemahnt ein letztes Objekt im Eingangsbereich, das dem Herausgehenden in seiner Einprägsamkeit gleichsam mit auf den Weg gegeben wird, an die Macht der Sprache, deren Schönheit hier als Schriftbild augenfällig wird: Auf einer Leuchttafel erscheint das Wort Sprechen in 50 verschiedenen Sprachen und den dazugehörigen Schriften. Auch die fremde, nicht verständliche Sprache teilt sich hier als ästhetisches Schriftbild mit und bleibt doch in ihrer eigentlichen Bedeutung eben immer Sprache, die nicht nur verbindet, sondern auch den Grenzbereich menschlicher Verständigung markiert.

In seiner »stationären Behandlung« der einzelnen Räume präsentiert uns Markus Heinsdorff bekannte, beinahe archetypische Bilder – um nicht zu sagen Bilder von Bildern – in einem neu geschaffenen, übergreifenden Kontext, der ein neues Licht auf sie und ihre Bedeutung wirft. Dabei handelt es sich um Bilder im wahrsten Sinne des Wortes, Bilder, die sich auch bei dreidimensionaler Ausdehnung – seien sie nun abstrakt oder gegenständlich – in ihrer unmittelbaren Kraft und Assoziationsstärke bildhaft im Bewußtsein des Betrachters verankern. Sie bewegen und sie ruhen zugleich in sich. Sie gleiten von der Erinnerung, der Vergangenheit über in die Sphäre des Zeitlosen, Unvergänglichen und nehmen den Betrachter mit auf diese Reise. Sie verlassen das Terrain fest eingespeicherter, rational verarbeiteter Bilder aus dem verinnerlichten Bilderpool des menschlichen Hirns und wirken hinüber in den Bereich der Gefühle und Empfindungen. In seltener Weise, einem Glücksfall geradezu entsprechend, offenbaren sich in dieser »Installation für eine Praxis« dem aufmerksamen Patienten / Besucher – Raum für Raum, Bild für Bild abschreitend – elementare Wahrnehmungsphänomene des Bildersehens. Die andere Wirklichkeit der Kunst wird in eindrucksvoller Weise zur Anschauung gebracht, ganz abseitig eingefahrener Kunstorte. Und die Zahnarztpraxis als häufiger Ort unserer Ängste, wo wir unserer existentiellen Hilflosigkeit und den zu erleidenden Unannehmlichkeiten des Lebens doch immer wieder bewußt werden, verlassen wir gelindert, ja sogar bereichert durch die Erfahrung, die wir mit der Kunst gemacht haben.

Udo Kittelmann
Leiter Museum für Moderne Kunst, Frankfurt